Wie unser Wissen über Vererbung die heutige Stoffwechselmedizin beeinflusst
Prof. Dr. Annette Schürmann im Interview mit key g / Autoren: Annette Schürmann, Stefan Rombach
Das Robert Koch-Institut präsentierte jüngst alarmierende Zahlen: In Deutschland gelten fast die Hälfte aller Frauen und sogar 60 Prozent der Männer als übergewichtig oder adipös. Zur Beurteilung wird der Body-Mass-Index (BMI) herangezogen (Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern). Ab einem Wert von 25 spricht man von Übergewicht, ab 30 von Adipositas (Fettsucht). Bei Kindern und Jugendlichen ist ein Vergleich zum Durchschnitt Gleichaltriger nötig. Selbst in dieser Bevölkerungsgruppe bringen bereits 20 Prozent mehr als das Normalgewicht auf die Waage – Tendenz steigend.
Angesichts einer derartigen Entwicklung steht die Medizin vor neuen Herausforderungen. Fettleibigkeit geht mit zahlreichen gesundheitlichen Risiken einher, von denen Diabetes mellitus Typ II und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nur zwei prominente Beispiele sind. Die Suche nach den Ursachen für Fettleibigkeit beschäftigt Wissenschaftler weltweit. Im Sinne einer personalisierten Medizin werden große Hoffnungen in die Entwicklung einer individuell maßgeschneiderten Therapie für Betroffene gesetzt.
Es gibt verschiedene Arten von Fettgewebe
Im menschlichen Körper wird Fett als sogenanntes weißes Fettgewebe gespeichert. Es dient als wichtiger Energiespeicher und sitzt an den bekannten und oft ungeliebten Stellen wie dem Bauch und den Oberschenkeln. Als Bau- und Strukturfett kommt ihm auch eine bedeutende Rolle zum Beispiel beim Schutz der Nieren zu. Darüber hinaus verdankt die weibliche Brust ihre Form zu einem großen Teil dem dort von Natur aus lagernden Fettgewebe. Funktioniert die Speicherung im Fettgewebe nicht richtig, kann Fett auch in anderen Organen eingelagert werden wie etwa in der Leber. Allerdings können die betroffenen Organe dann häufig ihre eigentliche Aufgabe nur noch eingeschränkt erfüllen. Neben dem weißen gibt es zudem braunes Fettgewebe. Säuglinge besitzen davon im Verhältnis zu ihrer Körpermasse viel mehr als Erwachsene. Es dient nicht als Energiereserve, sondern kann über einen besonderen biochemischen Vorgang Wärme produzieren. Die Entwicklung einer Fettsucht betrifft das weiße Fettgewebe.
Unser Erbgut beeinflusst unser Leben
Adipositas lässt sich nur selten auf eine einzige Ursache zurückführen. Es existieren Studien mit Zwillingen, die getrennt in verschiedenen Umgebungen aufwuchsen. Sie belegen, dass es eine genetische Veranlagung zur Adipositas gibt. Dennoch findet sich in den seltensten Fällen genau ein spezifisches Gen als Auslöser. Frau Professor Schürmann vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam erklärt, das einzelne Gen habe in der Regel nur eine geringe Auswirkung auf das Körpergewicht. In den vergangenen Jahren seien über 80 Gene entdeckt worden, die mit Übergewicht bzw. Adipositas zu tun hätten. Die bislang bekannten Gene machten lediglich 10 Prozent der Erblichkeit einer Adipositas aus. Kommerziell angebotene Gentests seien daher nicht aussagekräftig.
Es gibt aber durchaus Adipositasformen, die auf eine einzelne Genmutation zurückgehen. Eines der wenigen Beispiele hierfür ist eine Veränderung im Leptin-Gen. Normalerweise zeigen Fettzellen durch Leptin den Stand der körpereigenen Energiereserven an. Auf diese Weise werden das Hungergefühl und die Nahrungsaufnahme gesteuert. Bei einem defekten Leptin-Gen kann der Botenstoff nicht korrekt gebildet werden. Betroffene sind daher nicht in der Lage, ihr Hungergefühl dem Energiebedarf anzupassen. Inzwischen ist es möglich, Leptin von außen zuzuführen und auf diesem Weg Erkrankten zu helfen. Doch die genaue Regulation der Nahrungsaufnahme ist komplex. So wird eine Adipositas auch bei anderen Veränderungen in diesem Steuerungssystem ausgelöst, beispielsweise bei Mutationen im Präkursor-Protein Proopiomelanocortin (POMC) sowie dem Melanocortin-4-Rezeptor (MC4-Rezeptor). Eine Möglichkeit zur Therapie steht hier aber bislang nicht zur Verfügung.
Unser Leben beeinflusst unser Erbgut
In den letzten Jahrzehnten werden immer mehr Menschen adipös. Da sich Gene in so kurzer Zeit nicht ändern, müssen auch andere Faktoren auf das Körpergewicht Einfluss nehmen. Solche Faktoren können sich aus unserer Ernährung und unseren Gewohnheiten ergeben. Unsere Lebensumstände beeinflussen die Aktivität von Genen, nicht aber die Erbinformation selbst. Hiermit beschäftigt sich die Epigenetik. In einem Gen ist die Information über den Bau eines bestimmten Proteins gespeichert. Verschiedene Auslöser in der Umwelt können dazu führen, diesen Bauplan zum Beispiel überhaupt nicht mehr abzurufen. Gene werden folglich an- oder ausgeschaltet wie ein Lichtschalter. Biochemisch stellt sich ein solcher Vorgang etwa als DNA-Methylierung dar. Frau Professor Schürmann erläutert in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse aus Tierversuchen: Die Aktivität von Genen hängt beispielsweise von der Ernährungssituation der Mutter in der Schwangerschaft oder von der Nährstoffversorgung in der Kindheit ab. Epigenetische Prägungen können auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Aus den Keimzellen von Mäusen mit hochkalorischer Ernährung gehen schwerere Mäuse hervor als bei der normal ernährten Vergleichsgruppe. Dies ist selbst dann der Fall, wenn beide Mauspopulationen während der Schwangerschaft gleich ernährt werden. Eine weitere Erkenntnis ist der Einfluss der Ernährung der Muttertiere, solange die Jungtiere gesäugt werden. Eine hochkalorische Ernährung der Mutter führt beim gesäugten Nachwuchs zu einem höheren Körpergewicht – oft für das gesamte Leben der neugeborenen Maus.
Im Jahr 2013 waren insgesamt 52 % der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland
übergewichtig. Das zeigen die Ergebnisse der Mikrozensus-Zusatzbefragung 2013,
bei der Fragen zu Körpergröße und Gewicht gestellt wurden.
Auch bei den epigenetisch bedingten Formen der Adipositas ist eine Vielzahl von Genen beteiligt. Eine gezielte Einflussnahme ist jedoch bislang nicht bekannt. Manche Prägungen des Erbguts bleiben zwar lebenslang, andere können jedoch durch die persönliche Lebensführung beeinflusst werden, so Schürmann. Vor Kurzem wurde eine Genprägung entdeckt, die sich durch Einhalten einer Diät verändern lässt. Auch dieses Gen trägt zur Steuerung des Körpergewichts bei. Liegt eine Adipositas vor, wird die Information des Gens nur selten abgerufen. Werden aber weniger Kalorien aufgenommen und reduziert sich das Körpergewicht, wird die biochemische Deaktivierung aufgehoben und das Gen wieder häufiger abgelesen. Es wäre falsch, Adipositas als Schicksal zu betrachten.
Verkompliziert werden solche Beobachtungen durch die Beschränkung der Genprägungen auf bestimmte Organe. Eine spezielle Ernährung kann, je nach Gen, beispielsweise in der Leber eine Veränderung der Aktivität bewirken, nicht aber in anderen Organen.
Die Wissenschaft hat folglich noch einen langen Weg zu gehen.
Adipositas ist eine multifaktoriell verursachte Erscheinung. Einerseits liegen bahnbrechende Erkenntnisse der erblichen und persönlich steuerbaren Zusammenhänge vor, andererseits erlauben diese Entdeckungen noch keine Planung einer maßgeschneiderten Therapie im Sinne der personalisierten Medizin.